Assign modules on offcanvas module position to make them visible in the sidebar.

Freitag, 20.03.2020 (Tag 5)

Alltagsgeschichten

Ich treffe Frau Soundso, Ü70, heute zum dritten Mal. Sie ist zwei Mal beruflich bei mir gewesen. Und ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich habe beschlossen in nächster Zeit zu Fuß zur Arbeit zu gehen, um runterzukommen.
Wir treffen uns an der Ampel. Sie hat jetzt ihren Einkaufstrolley dabei. Ihre Augen blitzen auf, wir grüßen uns sehr freundlich. Ich rufe ihr heute zum dritten Mal entgehen: "Was tun Sie denn hier?"
Frau Soundso: "Fangen Sie jetzt schon wie meine Tochter an?"
Ich frage sie: "Warum? Sagt ihre Tochter das auch zu Ihnen im Moment?"
Frau Soundso ganz entnervt: "Hören Sie bloß auf. Die hat jetzt Zeit, weil sie Homeoffice macht. Sie hat mich doch glatt angerufen heute morgen und gesagt, ein Bekannter hätte mich gestern mit dem Trolley gesehen und warum ich so einen Quatsch machen würde, schließlich würde sie doch im Moment für mich einkaufen gehen."
Sie schimpft weiter vor sich hin: "Die kontrolliert MICH richtig, muss man sich mal vorstellen. Ich habe sie gefragt, ob sie jetzt mein Kontrolleur ist!!!"
Sie schaut mich an. Ich zucke überfordert mit den Schultern und lächle wahrscheinlich etwas schräg, ich wünsche ihr einen schönen Tag und erfolgreichen Einkauf mit ihrem Ü70-Porsche und sage zum dritten Mal zu ihr heute: "Passen Sie gut auf sich auf!"

Generell fällt mir dieser Tage auf, wie furchtbar viele der Ü70-Fraktion in freier Wildbahn unterwegs sind. 

Ich fange an Freunde zu fragen, was ihre Eltern so machen. Am nachdenklichsten hat mich folgende Geschichte eines Mannes gestimmt, der mir ganz offen und voller Sorge erzählte, dass er leider seine Eltern, sie gehen auf die neunzig zu, kaum gebändigt bekommt. Da sie auf dem Land wohnen und schlecht zu Fuß sind und Keller, Garage, Kühlschrank gut gefüllt sind, hat er seinem Vater kurzerhand den Autoschlüssel abgenommen. Die sind jetzt sauer auf ihn.

Immer wieder kommt hoch, was ich versuche zu verdrängen, was ich aktuell mit meinen besten Freunden, einem Ehepaar, erlebt habe. Beide gehen stramm auf die achtzig zu. Sie hatten letzte Woche eine Busreise in die Toscana (Italien) gebucht, etwas eingeschüchtert von den Ereignissen haben sie entschieden, vielleicht doch besser eine Busreise nach Dresden zu unternehmen.  

Ich habe versucht, was ich konnte, hab ihnen noch frühmorgens am Freitag, dem 13.03.20, eine WhatsApp geschrieben und ihnen gesagt, was für ein schlechtes Bauchgefühl ich hätte und dass ich mir Sorgen machen würde und dass ich befürchten würde, Theater etc. würden schließen müssen aufgrund der Entwicklung. Und ich bitte sie, ernsthaft drüber nachzudenken, ob sie es nicht verschieben könnten.

Gegen Mittag schrieben sie mir fröhlich, sie hätten gerade schön in Kassel gegessen und von den 16 Mitreisenden im Bus würde auch keiner husten. Das hat mich kein bisschen beruhigt. Ich habe ihnen dann eine schöne und gesunde Reise gewünscht.

Am Montag, dem 16.03.20, vor Dienstbeginn habe ich mich erst wieder getraut zu fragen per WhatsApp, wie es ihnen gerade gehen würde und wo sie sich gerade aufhalten würden. Ich habe sehr schöne Urlaubsfotos zugesendet bekommen und einen kleinen Text, warum ich denn so früh schreiben würde, ob es mir auch gutgehen würde. Ich habe aus lauter Verzweiflung und Überforderung lachende Smilies geschickt. Im Nebensatz stand in ihrer Nachricht, ihr Schwiegersohn würde sie gegen 10 Uhr in Weimar abholen. 

Gegen Abend habe ich sie erneut kontaktiert, ob sie wieder zuhause wären. Wir haben telefoniert, ich habe immer stummer zugehört und sie erzählten ganz lebhaft. Viele Dinge habe ich mich gar nicht mehr getraut zu fragen - aus lauter Angst vor den Antworten, i.e.S. warum sie jetzt der Schwiegersohn abholen musste, wenn doch alles so toll war, und sie nicht mit der namhaften Busgesellschaft zurückgefahren sind.

Und jetzt habe ich wieder Angst zu fragen, wie es ihnen geht. Zu fragen, ob sie husten. Ich habe Angst Menschen zu verlieren, die ich liebe, die so viel für mich getan haben und die für mich da waren, nur weil sie diesmal gar nicht gut auf sich aufgepasst haben. 

Back to top

Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.